Als Einzelunternehmer oder Freelancer kennen Sie das vielleicht: Verhandlungen mit neuen oder bestehenden Kunden können manchmal einschüchternd sein, besonders wenn diese grössere & etablierte Unternehmen vertreten oder über mehr Markterfahrung verfügen.
Eine aktuelle Studie beleuchtet ein psychologisches Phänomen, das viele von uns betrifft, aber selten benannt wird: Face Threat Sensitivity – und warum E-Mail-Kommunikation in solchen Situationen einen strategischen Vorteil bieten kann.
Face Threat Sensitivity (FTS) beschreibt unsere individuelle Empfindlichkeit gegenüber Bedrohungen unseres sozialen Selbstwerts. Menschen mit hoher FTS reagieren stärker auf Situationen, in denen ihr Gesicht "verloren gehen" könnte – etwa durch Kritik, Ablehnung oder subtile Herabsetzung in Verhandlungen.
Die Forschung von Tuncel et al. (2020) zeigt etwas Überraschendes: Personen mit hoher Face Threat Sensitivity stellen in persönlichen Verhandlungen signifikant niedrigere Forderungen, wenn sie auf kompetitive Verhandlungspartner treffen. Tuncel, E., Kong, D. T., McLean Parks, J., & van Kleef, G. A. (2020). Face threat sensitivity in distributive negotiations: Effects on negotiator self-esteem and demands. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 161, 255-273. https://doi.org/10.1016/j.obhdp.2020.07.004
Der Grund?
Ihr Selbstwertgefühl sinkt durch die wahrgenommene Bedrohung, was sie zu grösserer Nachgiebigkeit führt.
Besonders bei Online-Dienstleistungen nutzen etablierte Kunden ihre Marktposition oft als Druckmittel. Der klassische Satz "Sie müssen sich erst einmal beweisen" ist dabei ein subtiles, aber wirkungsvolles Dominanzsignal, das die Verhandlungsposition des Dienstleisters systematisch schwächt – und gerade bei Menschen mit hoher Face Threat Sensitivity besonders wirksam ist.
Diese Taktik hat drei psychologische Komponenten:
Die E-Mail-Kommunikation reduziert diesen FTS-Effekt auf mehreren Ebenen:
In E-Mails entfallen zahlreiche nonverbale Statussignale, die in persönlichen Gesprächen subtil Dominanz und Unterordnung kommunizieren:
Die Abwesenheit dieser Signale führt zu einer Fokussierung auf sachliche Argumente statt auf Dominanzhierarchien – ein Vorteil für Menschen mit hoher Face Threat Sensitivity.
Bei E-Mail-Verhandlungen haben langjährige Marktpräsenz und Firmengrösse weniger Einschüchterungspotenzial. Der "wir sind schon lange am Markt"-Vorteil wird abgeschwächt, da:
Die Forschung zeigt: In persönlichen Verhandlungen kann ein kompetitives Verhalten des Gegenübers bei Personen mit hoher FTS zu verringertem Selbstwertgefühl führen, was wiederum zu weniger forderndem Auftreten und schlechteren Verhandlungsergebnissen führt.
Erstaunlicherweise zeigt die Studie von Tuncel et al., dass dieser Effekt bei E-Mail-Kommunikation deutlich abgeschwächt wird. Die schriftliche Form schafft eine psychologische Distanz, die bei Menschen mit hoher FTS eine objektivere Selbstbewertung ermöglicht – und damit zu besseren Verhandlungsergebnissen führt.
Speziell gegen die "Sie müssen sich erst beweisen"-Taktik bietet E-Mail wirksame Gegenmittel:
Statt in die Beweis-Falle zu tappen, verweisen Sie in Ihrer E-Mail auf objektive Branchenstandards:
Ineffektiv (in persönlichem Gespräch): "Ich verstehe Ihre Bedenken und bin bereit, zunächst zu einem niedrigeren Satz zu arbeiten."
Effektiv (per E-Mail): "Die marktübliche Vergütung für diese Leistung liegt zwischen X und Y CHF. Mein Angebot von Z CHF entspricht dem mittleren Marktsegment und reflektiert die beschriebene Qualifikation und Erfahrung."
Definieren Sie selbst, was als erfolgreiche Leistung gilt:
Ineffektiv (in persönlichem Gespräch): "Ich bin sicher, dass Sie mit meiner Arbeit zufrieden sein werden."
Effektiv (per E-Mail): "Der Erfolg dieses Projekts wird anhand folgender messbarer Kriterien bewertet: [konkrete, objektive Erfolgskriterien]. Diese werden [in welchen Intervallen] gemeinsam evaluiert."
Stellen Sie höflich, aber bestimmt die Gegenfrage nach der Qualifikation des Kunden:
Ineffektiv (in persönlichem Gespräch): Schweigendes Akzeptieren der einseitigen Beweislast.
Effektiv (per E-Mail): "Um optimale Ergebnisse zu erzielen, ist eine qualifizierte Zusammenarbeit entscheidend. Während ich [Ihre Qualifikationen] einbringe, benötige ich von Ihrer Seite [konkrete Ressourcen/Kompetenzen/Informationen]. Können Sie bestätigen, dass diese verfügbar sein werden?"
Um den statussenkenden Effekt von E-Mail-Kommunikation optimal zu nutzen, besonders für Menschen mit höherer FTS:
Die schriftliche Form zwingt zu klarer Strukturierung und verhindert rhetorische Ablenkungen. Nutzen Sie Aufzählungen und Absätze, um Ihre Punkte unmissverständlich darzustellen.
Diese können in schriftlicher Kommunikation als Unterwürfigkeitssignale interpretiert werden. Bleiben Sie höflich, aber vermeiden Sie häufige Entschuldigungen oder übertriebene Dankbarkeitsbekundungen – typische Verhaltensweisen bei hoher FTS.
Der "Ankereffekt" funktioniert in E-Mail-Verhandlungen genauso gut wie in persönlichen Gesprächen. Nutzen Sie ihn, indem Sie früh im Prozess klare Zahlen und Bedingungen nennen – ein effektiver Ausgleich für die Tendenz bei hoher FTS, die eigenen Forderungen schnell zu reduzieren.
Ein Vorteil von E-Mail-Verhandlungen ist die Möglichkeit, Daten und Belege direkt einzubinden. Die Stärke Ihrer Position wird durch Objektivierung erhöht – dies reduziert den subjektiven Druck, der bei hoher FTS entsteht.
Da die Forschung zeigt, dass besonders das leistungsbezogene Selbstwertgefühl bei hoher FTS durch kompetitive Gegenüber beeinträchtigt wird, nutzen Sie E-Mails, um Ihre Qualifikationen und Erfolge sachlich zu dokumentieren. Dies schafft einen psychologischen Anker für Ihr eigenes Selbstwertgefühl.
Die Entscheidung für E-Mail-Verhandlungen ist keine Vermeidungsstrategie, sondern ein strategischer Vorteil für alle, die mit höherer Face Threat Sensitivity leben – eine Eigenschaft, die übrigens bis zu 40% der Bevölkerung betrifft und keineswegs eine Schwäche darstellt, sondern schlicht ein Persönlichkeitsmerkmal.
Wie die Forschung von Tuncel et al. (2020) nahelegt, können in verschiedenen beruflichen Kontexten, in denen Statusunterschiede eine Rolle spielen, schriftliche Kommunikationsformen wie E-Mail ein wirksames Instrument darstellen, um diese Dynamiken auszugleichen. In der Geschäftswelt, die noch immer von solchen Statusunterschieden geprägt sein kann, bietet E-Mail-Kommunikation die Möglichkeit, auch aus vermeintlich schwächeren Positionen heraus erfolgreiche Verhandlungsergebnisse zu erzielen.
Gerade für Einzelunternehmer, die im digitalen Raum agieren, bietet das Jahr 2025 mit seinen zunehmend virtuellen Geschäftsbeziehungen eine einzigartige Chance, durch strategische E-Mail-Kommunikation erfolgreicher zu verhandeln und faire Konditionen zu erzielen – unabhängig davon, wie empfindlich Sie auf soziale Bewertung reagieren.